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Prolog. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten.
Alle paar Jahre gibt der Harvard Jahrgang von 1964 seinen ›Report‹ heraus, in dem die Kommilitonen ihr Leben beschreiben. Unter den Hunderten von Einträgen in der jüngsten Ausgabe bewegte mich der von John Graham am meisten, den ich nie getroffen hatte. »Als junger Mann«, hatte er da geschrieben, »lebte ich vom physischen Risiko, gefährdete mich in jeder erdenklichen Art und Weise – und brachte schließlich doch vernünftige Dinge in meinem Leben zustande.« Der Autor erwähnte, dass er seine Memoiren geschrieben habe, und ich zögerte nicht, sie gleich zu bestellen.Drei Gründe, einer triftiger als der andere, möchte ich nennen, weshalb ich sie als Bereicherung empfand:Der erste Grund betrifft das Lesevergnügen. Es handelt sich bei dem Buch um einen spannend und anschaulich geschriebenen Thriller. Es erzählt von echten Abenteuern – vom Erklimmen des höchsten Gipfels Nordamerikas über die für unbezwingbar gehaltene Nordwand, vom Leben als vagabundierender Student mit Mitgliedern der Fremdenlegion in Algerien, von der Gefangenschaft in einem iranischen Gefängnis während einer Autostop-Reise durch Asien, von der Bedrohung mit vorgehaltener Waffe durch eritreische Rebellen, von der Außendienstmitarbeit in Libyen zur Zeit des Staatsstreichs, der Gaddafi an die Macht brachte, vom Eingeschlossensein in einer belagerten Stadt auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs, vom ›Spiel mit dem Schicksal der Welt‹ als Nuklearstratege im State Department und, schließlich, vom Beinahe-Tod in einem Rettungsboot während eines Taifuns.Aber dies ist nur die eine Seite dieses Buches.Die offenbarende Beschreibung persönlicher Außergewöhnlichkeit in Entgrenzung ist ein weiterer Grund für die Wertschätzung der Memoiren. Grahams anfängliche Annahme ist, er sei unverwundbar – dass ihm nichts passieren werde, und dass er praktisch unendlich weiterleben könne. Dies gilt für viele junge Leute, aber sein Talent, gefährliche Situationen zu überleben, machen aus ihm einen Extremfall. »Ich wusste einfach, dass sich dieses Errettungs-Muster fortsetzen würde«, schreibt er. Er fragt sich, ob eine höhere Macht dahinter stecke. »Wie, wenn der Grund für meine Errettung wäre, einem höheren Zweck als meinen eigenen zu dienen?«Beabsichtigt oder nicht, präsentiert das Buch diese individuelle Außergewöhnlichkeit parallel zum Gefühl der nationalen Außergewöhnlichkeit. Als Leser betrachte ich dies als die zwei Seiten derselben Medaille. Für die Generation des 64er-Jahrgangs war die große Schaubühne amerikanischer Überheblichkeit der Vietnamkrieg, und Vietnam ist gleichzeitig Schauplatz von Grahams eigener Anmaßung. Für ihn ging es bei der Absicht, eine Diplomatenkarriere zu verfolgen, »weniger um den Dienst an der Allgemeinheit als darum, an die Macht zu kommen.« Eine Entsendung nach Vietnam war »einfach der sicherste Weg, die Karriereleiter zu erklimmen...«. Im Rückblick sieht er, dass in Vietnam »das Einzige, woran ich glaubte, ich selber war.« Damit ist er nicht weniger idealistisch als Washington: Beide assoziieren zum Krieg Begriffe von Macht: Washington ging es um Machtkonsolidierung, Graham um Machterlangung. In einer unvergesslichen Anekdote beschreibt Graham in diesem Buch sich und einen Kollegen, wie sie mit M16-Gewehren auf Büsche feuern. Sie üben sich in der Selbstverteidigung, während der Feind im Anrücken ist. Der feuernde Graham bemerkt, wie der andere ihm einen seltsamen Blick zuwirft. Darauf angesprochen erklärt jener, Graham habe »wie ein wirk- lich Wahnsinniger« ausgesehen. »Deine Zähne waren gebleckt und Deine Augen nur noch Schlitze. Du sahst aus, als könnest Du es nicht erwarten, auf richtige Menschen und nicht nur auf Büsche zu feuern. Manchmal machst du mir eine Höllenangst.«. Der Vorfall lässt Graham vorübergehend »die moralische Öde meines Lebens« erkennen. Für ihn war die »tödliche Konfrontation mit einem menschlichen Feind das größte Abenteuer, das es gibt.«Doch wenngleich die Schrecken in Vietnam die Gelegenheit zu einer Lektion in moralischer Schwäche sowohl für Washington als auch für Graham boten, nahm sie sich keiner zu Herzen. Henry Kissingers Außenministerium wird den jungen Mann in die Top-Secret-Gruppe der Atomkriegsplanung befördern. Dies ist die perfekte Verbindung zwischen dem anmaßenden Washington und dem anmaßenden Graham: Für den einen ist die Planung nuklearer Katastrophenszenarien ein Nervenkitzel (»Was könnte aufregender sein, als mit dem Geschick der Welt zu spielen?«), für den anderen ist es eine realistische Form der Konfliktlösung (die Gruppe »glaubte wirklich, dass ein Atomkrieg wie jeder andere Krieg ausgefochten und gewonnen werden könnte.«)Entgrenzung ist damit voller soziologischer, psychologischer und politischer Einsichten – selbstbezogen, aber ungeniert selbstkritisch. Es demonstriert, wie eine ernsthafte, abgerundete Persönlichkeit ohne ideologischen Rucksack Teil einer selbstzerstörerischen Welt nach dem Muster von Dr. Strangelove werden kann, einer Welt des ultimativen Machtrausches.Aber der Hauptgrund, warum ich dieses Buch schätze, ist sein Leitmotiv – die Frage, was es ausmacht, ein ›richtiger Mann‹ zu sein. Als Jugendlicher ist Graham spindeldürr, wird schikaniert und ist unsicher. Ein richtiger Mann, meint er, sei bullig und leistungsfähig. »Mein Verlangen nach Männlichkeit orientierte sich an streng kontrollierter Härte«, schreibt er. Er sieht »Sanftmut und Fürsorge als Schwäche« an. Er widerspiegelt die damalige Kultur: John Wayne ist ein Held, und als der erste 007-Film während seiner Studentenzeit herauskommt, wird James Bond für ihn »zum Inbegriff von schnittiger Eleganz.«Graham braucht Jahrzehnte, um sich über diese Definition von Männlichkeit hinaus zu entwickeln. Verschiedene Erfahrungen (einschließlich einiger mystischer) führen dazu. Ein privates Treffen 1978 mit Robert Sobukwe, dem Südafrikanischen Freiheitskämpfer, ist von besonderer Bedeutung: Die Organisation, die dieser und Nelson Mandela geschaffen hatten, »sollte der Welt ein Modell zur Heilung von atemberaubender Kraft vorstellen.« Als eine Stimme der Vergebung und Versöhnung, schreibt Graham, war der an Krebs sterbende Sobukwe »stärker als alle Helden meiner Jugend zusammen.«Und doch, wie so viele von uns, handelt Graham nicht nach dem, was er als wahr erkannt hatte. Erst viel später geschieht das, als er in einem zum Spielball der Wellen gewordenen Rettungsbot eine mächtige Stimme vernimmt, oder meint zu vernehmen, eine Stimme, die ihm gebietet, mit der Herumtreiberei aufzuhören und das Richtige zu tun – d.h., sein Leben dem Dienst an der Menschheit zu widmen. Er beginnt, dies nicht nur selbst zu praktizieren, sondern führt heute gemeinsam mit seiner Frau eine ganze Organisation, die Vorbilder schafft, indem sie über die Welt verstreute Individuen, die sich mutig für das Gemeinwohl einsetzen, öffentlich bekannt macht. Ebenso fördern diese Memoiren die unangreifbar feinsinnige Idee, dass das Dienen dem Leben Sinn und Zweck geben kann.Implizit stellt das Buch die Frage, warum die populäre Kultur Nordamerikas einer solchen Vision von Männlichkeit keine größere Rolle einräumt. Viele Filme, die sich an Kinder oder junge Männer richten, zeigen Feuergefechte oder Schwertergerassel in einer Demonstration von Macht und Rache. Videospiele gehen oft in dieselbe Richtung. Sport im Fernsehen verherrlicht gleichfalls Angriff und Verletzung. Gleichzeitig bedeutet das Abnehmen des Bedürfnisses nach Rückzug und Besinnung, dass die Botschaft der Güte und Vergebung heute kaum noch auf Gehör trifft.Entgrenzung präsentiert mehr Action, bei denen einem die Haare zu Berge stehen, als die meisten Abenteuerfilme – und nichts davon ist erfunden. Zu einer Zeit, als so viele junge Männer ziellos im Vagen schwimmen, verdienen Grahams mühsam errungene Einsichten zum Thema Männlichkeit eine große Leserschaft.Henry Aubin ist Kolumnist, Historiker und Romancier
Produktinformation
Gebundene Ausgabe: 454 Seiten
Verlag: AAP Verlag; Auflage: 1 (24. November 2017)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3905868091
ISBN-13: 978-3905868098
Vom Hersteller empfohlenes Alter: Ab 14 Jahren
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